Skill-based Recruiting: Warum Fähigkeiten wichtiger werden als Abschlüsse
- Marcus

- vor 6 Tagen
- 4 Min. Lesezeit
In Recruiting-Kreisen liest man derzeit viel von „Skill-based Recruiting“, „Skills First“ oder „kompetenzbasiertem Hiring“. Viele Unternehmen versprechen sich davon mehr Objektivität, bessere Passung und eine Öffnung des Talentpools. Doch was steckt wirklich dahinter – und wo lauern die Fallstricke?

Was ist Skill-based Recruiting?
Skill-based Recruiting bedeutet, dass im Einstellungsprozess weniger das "Ob" (Abschluss, Titel, Firmenhistorie) zählt, sondern das "Wie gut" — also die tatsächlichen Fähigkeiten und Kompetenzen eines Bewerbenden. Statt klassischer Selektion über Lebensläufe oder Zertifikate wird auf
Kompetenzprofile / Skillprofile
Aufgaben, Tests oder Arbeitsproben
Praxisrelevante Fähigkeiten und Methodenkompetenz
Soft Skills & Verhalten in realen Szenarien
gefiltert und bewertet.
Ein zentrales Ergebnis einer aktuellen Studie zu KI- und Green-Job-Angeboten zeigt: Zwischen 2018 und 2023 sank die Forderung nach formalen Abschlüssen in AI-Positionen um rund 15 %, während Skills stärker nachgefragt wurden.
Skill-based Hiring ist damit kein Modewort, sondern eine Reaktion auf sich rasch wandelnde Anforderungen, bei denen spezifische Fähigkeiten oft wichtiger sind als klassische Laufbahnstationen.
Vorteile des Konzepts
Einige der attraktivsten Versprechen des Ansatzes:
Größerer Talentpool & inklusiveres Recruiting
Wer weniger auf formale Qualifikationen achtet, öffnet sich für Quereinsteiger:innen, Kandidat:innen aus anderen Branchen oder mit nicht-traditionellen Lebensläufen.
Bessere Passung & weniger Fehlbesetzungen
Indem man auf reale Fähigkeiten testet, reduziert man die Diskrepanz zwischen Erwartung und tatsächlicher Leistung.
Mehr Diversität & Chancengleichheit
Wenn Abschlüsse weniger zentral sind, sinkt der Einfluss von Bildungsprivilegien und sozioökonomischem Hintergrund auf die Auswahl.
Agilität & Anpassungsfähigkeit
Vor allem in schnell veränderlichen Branchen (Tech, KI, Nachhaltigkeit) können Skills schneller angepasst/umgeschult werden als traditionelle Abschlüsse.
Objektivere Bewertung & weniger Bias
Standardisierte Tests, klar definierte Kriterien und Vergleichsmaßstäbe helfen, Subjektivität zu reduzieren – zumindest theoretisch.
Nachteile & Risiken, die man nicht ignorieren darf
So viel Potenzial — doch der Übergang ist nicht ohne Herausforderungen und Gefahren. Einige der am häufigsten genannten Kritikpunkte:
Validität und Aussagekraft von Tests
Wenn Tests oder Aufgaben nicht gut konstruiert sind, kann das mehr Schaden anrichten als Nutzen. Manche Skill-Hiring-Ansätze setzen unvalidierte Bewertungstechniken ein.
Wenig empirische Belege für große Wirkung
Kritiker weisen darauf hin, dass bei abgeschafften Bildungsanforderungen nur sehr wenige Stellen tatsächlich mit Kandidat:innen ohne Abschluss besetzt wurden — der Effekt sei oft minimal.
Legalität & Compliance
In vielen Ländern gelten strenge Regelungen für Bewertungsverfahren, Diskriminierungsverbote etc. Wenn Tests nicht gut fundiert sind, drohen rechtliche Risiken.
Kosten & Aufwand bei Einführung
Skill-Profile, Testentwicklung, Validierung, Schulung – all das kann hohe Anfangsinvestitionen erfordern.
Übergewichtung von Hard Skills & Vernachlässigung von Soft Skills
Wer zu sehr auf technische Fähigkeiten schaut, übersieht manchmal wichtige Sozialkompetenzen oder gesellschaftliche Passung.
„Voodoo Recruiting“
Wenn Führungskräfte anstelle von Abschlüssen auf vage Beurteilungen oder nicht nachvollziehbare Kriterien ausweichen, wird der Ansatz gefährlich.
Was braucht man, damit es funktioniert?
Damit Skill-based Recruiting nicht zur Illusion wird, braucht es strukturelle und organisatorische Voraussetzungen:
Kompetenz- und Skill-Frameworks
Man muss verstehen, welche Skills für welche Rolle wirklich relevant sind — und diese in Klassen/Oberkategorien (z. B. Hard Skills, Soft Skills, Tools, Methoden) einordnen.
Validierte Tests & realistische Arbeitsproben
Nur belastbare Assessmentverfahren (Coding-Challenges, Fallstudien, Simulationen) bringen echte Erkenntnisse.
Bias-Reduktion & Standardisierung
Einheitliche Bewertungsmaßstäbe, Anonymisierung, divers besetzte Panels helfen, faire Bewertungen zu gewährleisten.
Transparenz & Kommunikation
Kandidat:innen sollten verstehen, nach welchen Skills sie beurteilt werden – und wie sie sich vorbereiten können.
Technische Infrastruktur & Datenintegration
Ein System, das Skill-Daten speichern, vergleichen und auswerten kann — verbunden mit ATS, HR-Systemen etc.
Change Management & Kulturwandel
Fachbereiche und Führungskräfte müssen mitgenommen werden. Nicht wenige sehen Skills-First als radikal fremd.
Fortlaufende Validierung & Anpassung
Skill-Anforderungen ändern sich. Es braucht Feedbackschleifen und Evaluation der Verfahren.
Klassische Stolpersteine
Auch mit besten Absichten stolpert man schnell über Details:
Zu breite oder zu enge Skill-Definitionen
Wenn das Kompetenzprofil zu allgemeingültig ist („Teamfähigkeit“) oder zu kleinteilig („Excel-Funktion XYZ“), wird es entweder wenig hilfreich oder zu strikt.
„Testwahnsinn“
Zu viele oder zu lange Assessments demotivieren Kandidat:innen.
Mismatch zwischen Tests und realer Arbeit
Ein Test darf nicht isoliert sein – er muss unmittelbar relevant sein für die Tätigkeit.
Mangelnde Akzeptanz bei Führungskräften
Wenn die Hiring Manager den Ansatz nicht mittragen, bleibt er ein Randthema.
Daten-Silos & Systembrüche
Wenn Skill-Daten nicht in bestehende HR-Systeme integriert sind, entsteht zusätzlich neuer Aufwand.
Ungleichgewicht zwischen Hard und Soft Skills
Gute technische Prüfung ohne Überprüfung der Kommunikation oder Kultur-Fit führt zu Konflikten.
Komplexität in der Skalierung
Für viele unterschiedliche Rollen ständig neue Skill-Profile zu erstellen, kann Ressourcen binden.
Work-ID: Schweizer Startup als Praxisbeispiel
Ein spannendes Beispiel, wie Skill-basierte Ansätze praktisch umgesetzt werden, kommt aktuell aus der Schweiz: Cornel Müller und sein Team haben Work-ID gestartet.
Die Work-ID ist eine digitale Skills-ID bzw. „digitaler Skills-Ausweis“, der Arbeitnehmenden erlaubt, ihre Fähigkeiten, Erfahrungen und Werte in strukturierter Form darzustellen – anonym, kontrollierbar und mit der Option, gezielt von Arbeitgebern wahrgenommen zu werden.
Parallel dazu entwickelt Work-ID den Skills-Manager – ein Tool für Arbeitgeber, um basierend auf Skill-Daten im Unternehmen und in Kandidatenpools zu erkennen, welche Talente (intern und extern) wirklich passen, wo Lücken bestehen und wer für welche Rolle infrage kommt.
Das Geschäftsmodell setzt auf relativ niedrige Eintrittshürden: Skills-Manager soll ohne komplexe Integration nutzbar sein (Freemium-Modell), und die Work-ID ist eine persönliche, wachsende Kompetenzkarte.
Für den DACH-Raum ist das ein vielversprechendes Modell: Ein standardisierter, transparenter Ansatz, der Arbeitgeber und Kandidat:innen auf Skills-Basis zusammenbringt – ohne den Zwang zu traditionellen Zertifikaten. Ich drücke dem Team die Daumen, aber der Weg hin zu breiter Akzeptanz ist weit.
So gelingt der Einstieg: Konzept & Roadmap
Wenn ein Unternehmen Skill-based Recruiting einführen will, kann folgender Ablauf helfen:
Pilotprojekt wählen
Beginne mit einer Rolle, in der Skills klar definierbar sind (z. B. Developer, Data Analyst).
Skill-Framework entwickeln
Identifiziere ~10–20 zentrale Skills/Kompetenzen für diese Rolle.
Tests / Proben erstellen
Entwickle realitätsnahe Assessments (Coding-Challenge, Fallstudie, Simulation).
Screening & Scoring definieren
Lege Gewichtungen fest: Hard Skills (z. B. technisches Wissen) versus Soft Skills (z. B. Kommunikation).
Integration in ATS / HR-Systeme
Verknüpfe Skill-Daten mit Bewerber-Workflows, Talentpools etc.
Feedback & Validierung
Vergleiche Prognosen mit späterer Performance – lerne und optimiere.
Rollout & Kulturverankerung
Überzeuge Führungskräfte, schule Recruiting-Teams, kommuniziere transparent.
Skalierung & Anpassung
Übertrage auf weitere Rollen und pflege Skill-Daten kontinuierlich.
Einschätzung
Skill-based Recruiting ist mehr als ein Trend. Es ist eine notwendige Reaktion auf dynamische Arbeitsmärkte, veränderte Karrierewege und den zunehmenden Bedarf nach objektiver, leistungsorientierter Auswahl.
Doch es ist kein Wundermittel. Erfolg hängt daran, wie gut Unternehmen Skill-Frameworks definieren, Tests validieren, Führungskräfte mitnehmen und Systeme integrieren.
Das Beispiel Work-ID zeigt, wie Infrastruktur und Transparenz eine Schlüsselrolle spielen können – wenn sie klug, einfach und offen gestaltet werden.
Für Unternehmen, die den Wandel wagen, eröffnet sich eine echte Chance: Talent finden, jenseits von Lebensläufen – rein basierend auf dem, was jemand wirklich kann.








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