Talent Relationship Management in Krisenzeiten: Warum jetzt der beste Moment für den Aufbau nachhaltiger Talentpipelines ist
- Marcus

- 30. Nov.
- 5 Min. Lesezeit

Wenn Unternehmen Personal abbauen, wird oft reflexartig auch das Recruiting eingefroren. Stellen werden gestrichen, Budgets gekürzt, Talentpools verwaisen. Der Fokus liegt auf Krisenmanagement – nicht auf Beziehungsmanagement.
Dabei ist genau das ein Fehler, den viele Firmen später teuer bezahlen.
Denn jede Krise geht vorüber. Und wenn die Märkte sich wieder drehen, fehlen denen, die heute alles stoppen, morgen die passenden Leute. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit entscheidet sich, wer beim nächsten Aufschwung bereit ist – und wer bei null anfängt.
Hier liegt das enorme Potenzial von Talent Relationship Management (TRM): Beziehungen zu potenziellen Kandidat:innen bewusst zu pflegen, auch wenn gerade keine offene Stelle besteht. Und gerade jetzt, in einer Phase mit Stellenabbau, Überkapazitäten und Umstrukturierungen, kann TRM zu einem strategischen Gamechanger werden – für beide Seiten.
Was ist Talent Relationship Management – und warum ist es gerade jetzt wichtig?
TRM beschreibt den systematischen Aufbau und die Pflege von Beziehungen zu relevanten Talenten, unabhängig davon, ob ein konkreter Recruitingbedarf besteht.
Ziel ist es, ein Netzwerk aus qualifizierten, interessierten und passenden Personen aufzubauen, auf das im Bedarfsfall schnell und gezielt zugegriffen werden kann.
Im Grunde geht es darum, Recruiting so zu denken, wie es Vertrieb und Marketing längst tun: nicht reaktiv, sondern kontinuierlich. Ein gut gepflegtes Talentnetzwerk ist wie ein Warm-Leads-Funnel – er ersetzt den Bewerbungsprozess nicht, verkürzt ihn aber massiv.
Doch TRM ist nicht gleich TRM. Es gibt sehr unterschiedliche Ausprägungen, die sich hinsichtlich Zielsetzung, Umfang und Methodik stark voneinander unterscheiden.
Zwei TRM-Welten: Volumen vs. Boutique
Je nach Unternehmensgrösse und Talentstrategie haben sich zwei Grundmodelle etabliert, die man als „Volumen-TRM“ und „Boutique-TRM“ bezeichnen kann. Beide funktionieren – aber mit völlig unterschiedlicher Logik.
"Volumen-TRM" – gross Denken um Nachwuchs zu binden
Vor allem grosse Beratungshäuser, Tech-Konzerne oder internationale Industriebetriebe setzen oft auf Volumen-TRM. Ziel: möglichst viele potenziell interessante Talente frühzeitig identifizieren und im eigenen Ökosystem binden. Das erfordert Ressourcen, finanziell und personell.
Typische Beispiele sind Talentdatenbanken, die mit Tausenden von Studierenden, Young Professionals und High Potentials gefüllt sind – gewonnen durch Karriere-Events, Hochschulprogramme, Wettbewerbe oder Praktika.
Der Ansatz:
Möglichst viele qualifizierte Talente mit hohem Potenzial früh binden
Regelmässige Kontaktpflege über Newsletter, Events, Mentoring-Programme
Nutzung von KI, um Profile zu matchen, Interessen zu erkennen, Kontakte zu priorisieren
Das Ganze funktioniert wie eine Pipeline mit hoher Reichweite und niedriger Tiefe. Die Beziehung zu jedem Einzelnen ist begrenzt, aber die Masse an Kontakten sorgt für Auswahl, wenn Bedarf entsteht.
Besonders wertvoll ist dieses Modell in Branchen, in denen Nachwuchs früh sichtbar wird – etwa in Consulting, Finance oder IT.
"Boutique-TRM" – Qualität vor Quantität
Ganz anders agieren Unternehmen, die dieses Konzept verfolgen. Hier geht es nicht um Tausende Talente, sondern um gezielt ausgewählte, oft hochspezialisierte Fachkräfte oder Schlüsselrollen.
Ein Mittelständler mit starkem Ingenieursfokus oder ein Healthcare-Unternehmen mit komplexen regulatorischen Profilen baut keine gigantische Pipeline auf, sondern kuratiert eine kleine, persönliche Liste potenzieller „Perfect Fits“.
Der Fokus liegt auf:
Individueller Beziehungspflege: direkter, persönlicher Kontakt
Langfristiger Begleitung: über berufliche Stationen hinweg
Kontinuität und Vertrauen statt Reichweite
Man könnte sagen: Boutique-TRM ist Recruiting in Zeitlupe – aber mit maximaler Wirkung, wenn es darauf ankommt. Dieses Modell eignet sich besonders für Engpassprofile, die schwer zu finden und noch schwerer zu gewinnen sind.
Krisen als Nährboden für gutes TRM
In wirtschaftlich angespannten Zeiten ist paradoxerweise der beste Zeitpunkt, um TRM-Strukturen aufzubauen.
Warum? Statt ständig neue Stellen zu besetzen, kann der Fokus nun auf Beziehungsarbeit, Strukturierung und Automatisierung gelegt werden. Gleichzeitig entstehen in Krisen viele lose Enden – ehemalige Mitarbeitende, Bewerber:innen, Praktikant:innen, Studierende, Netzwerkpartner:innen –, die man jetzt nicht einfach so verlieren sollte.
Ein gutes TRM-System kann hier gleich doppelt wirken:
Für Unternehmen, die abbauen:
Reputationsschaden vermeiden
Beziehungen zu guten Leuten halten („Wir bleiben im Kontakt“)
Alumni-Programme oder Talentnetzwerke aufbauen
Für Unternehmen, die pausieren:
Sichtbarkeit und Beziehungspflege fortsetzen
Talentpools strukturieren und bereinigen
Automatisierung und KI-gestützte Prozesse implementieren
Für Unternehmen, die wieder aufbauen werden:
Frühzeitigen Zugriff auf bekannte Talente sichern
Einstellungszeiten verkürzen
Vertrauen und Marke langfristig stärken
Mit anderen Worten: Wer jetzt auf Beziehungspflege setzt, gewinnt morgen Zeit, Geld und Glaubwürdigkeit.
So nutzt man die Krise als TRM-Chance – ein Leitfaden in vier Schritten
TRM aufzubauen ist kein Hexenwerk. Doch es braucht ein klares Vorgehen und Verantwortlichkeit. Die folgenden Schritte bilden einen praxiserprobten Rahmen – skalierbar für Großkonzern oder Mittelstand.
1. Inventur und Segmentierung
Zuerst gilt: Daten sichten und strukturieren.
Wer ist in den letzten Jahren durchs Recruiting gegangen? Welche Bewerber:innen waren gut, aber wurden nicht eingestellt? Welche ehemaligen Mitarbeitenden wären potenzielle Rückkehrer:innen? Eine einfache Segmentierung reicht zunächst:
„Silbermedaillen“ (starke Zweitplatzierte aus Recruitingprozessen)
„Ehemalige Talente“ (Praktikant:innen, Werkstudent:innen, Alumni)
„Passive Kontakte“ (Netzwerk, Empfehlungen, Social-Media-Kontakte)
Diese Gruppen bilden die Basis eines künftigen Talentnetzwerks.
Tools wie Personio, Phenom, Recruitee, SmartRecruiters oder HubSpot CRM bieten dafür gute Schnittstellen und Tagging-Funktionen.
2. Beziehungspflege planen
TRM funktioniert nur, wenn es regelmäßig gepflegt wird – ohne Spam, aber mit Relevanz.
Dazu braucht es einen Plan:
Welche Inhalte teile ich? (z. B. Updates, Events, Fachartikel, Mitarbeitereinblicke)
In welchem Rhythmus? (z. B. vierteljährlich, projektbezogen oder eventgesteuert)
Über welche Kanäle? (E-Mail, LinkedIn, Alumni-Portale, persönliche Kontakte)
KI kann helfen, Themen zu personalisieren und Texte vorzubereiten – aber der Kern bleibt: Authentizität. Menschen merken, ob Kommunikation aus Interesse oder aus Kalkül erfolgt.
3. Prozesse automatisieren, Beziehungen personalisieren
Ein funktionierendes TRM ist kein One-Man-Show-Projekt. Es braucht Automatisierung im Hintergrund, aber auch menschliche Präsenz im Vordergrund.
Beispielsweise:
Automatische Reminder an Recruiter:innen, bestimmte Kontakte wieder anzusprechen
KI-generierte Vorschläge, wer für kommende Projekte interessant wird
Personalisierte Newsletter mit inhaltlicher Segmentierung (z. B. Tech, Marketing, Finance)
Das Ziel ist, eine Balance zwischen Effizienz und Nähe zu schaffen.
Je spezialisierter die Zielgruppe, desto persönlicher sollte der Kontakt sein – insbesondere im Boutique-TRM.
4. Marke und Beziehung zusammenführen
TRM ist nicht nur Recruiting, es ist auch Employer Branding.
Jede Interaktion mit Talenten prägt das Bild des Unternehmens. Gerade in Krisenzeiten kann Kommunikation über TRM zeigen:
Wir trennen uns respektvoll. Wir bleiben ansprechbar. Wir vergessen gute Leute nicht.
Das wirkt nach innen wie nach aussen. Ein offenes Alumni-Netzwerk, regelmäßige Updates zur Unternehmensentwicklung oder Lernangebote für Ehemalige stärken das Vertrauen – und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Talente später zurückkehren.
Der Business Case für TRM in Krisenzeiten
Viele fragen: Lohnt sich das überhaupt, wenn wir gar nicht einstellen?
Die Antwort lautet: gerade dann.
Denn TRM ist kein Recruiting-Kostenfaktor, sondern eine Investition in zukünftige Effizienz.
Unternehmen mit funktionierendem TRM besetzen Positionen schneller, günstiger und mit höherer Qualität. Studien zeigen, dass Wiederbewerbungen und Rückkehrer:innen deutlich höhere Erfolgsquoten haben als Kaltbewerbungen.
Zudem lässt sich TRM hervorragend als Reputationsschutzinstrument einsetzen. Wer Entlassungen menschlich und transparent kommuniziert – und Betroffenen eine Plattform bietet, in Kontakt zu bleiben – sendet ein starkes Signal:
Wir handeln fair, auch wenn es schwierig wird.
Das verbessert nicht nur das Employer Image, sondern stärkt auch intern die Identifikation der verbleibenden Mitarbeitenden.
Gute Beziehungen überstehen jede Krise
Krisen sind keine Recruiting-Pausen – sie sind Beziehungsphasen.
Wer jetzt klug handelt, legt das Fundament für den nächsten Aufschwung.
TRM ist dabei kein kurzfristiges Projekt, sondern ein Haltungsthema. Es bedeutet, Talente nicht nur als Ressourcen zu betrachten, sondern als Menschen, mit denen man im Dialog bleibt – unabhängig vom wirtschaftlichen Zyklus.
Ob als grosses Volumenmodell oder als feines Boutique-System:
Wer heute Beziehungen pflegt, braucht morgen keine Talente zu suchen.








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