Berufsausbildung: „Nachvermittlung“ & Spätstarter - Wie man unversorgte Bewerber:innen noch gewinnt
- Marcus

- vor 4 Tagen
- 5 Min. Lesezeit

Zwischen Oktober und Januar beginnt in vielen Betrieben die „zweite Halbzeit“ des Ausbildungsjahres: Die regulären Starts sind gelaufen, doch tausende Jugendliche sind weiterhin unversorgt – und ebenso bleiben tausende Ausbildungsplätze unbesetzt. Genau hier setzt die Nachvermittlung an: Betriebe und Beratungsstellen bringen Spätstarter:innen, Wiederhol-Suchende und Wechselwillige mit passenden Angeboten zusammen.
In Deutschland belegen aktuelle BA-Zahlen: Im sogenannten „5. Quartal“ (Oktober–Januar) standen sich 72.000 gemeldete Bewerber:innen und 78.000 betriebliche Ausbildungsstellen gegenüber; die Zahl sofort startfähiger Stellen sank ggü. Vorjahr zwar um 7.000, der Markt blieb aber in Bewegung. Im Januar 2025 befanden sich bereits 17 % der gemeldeten Suchenden in Ausbildung – ein Beleg dafür, dass Nachvermittlung wirkt.
Auch der Blick auf den regulären Verlauf zeigt die Hebel: Im Beratungsjahr 2024/25 gingen die Bewerbermeldungen rauf, die Stellenmeldungen runter; insgesamt gab es zwar mehr Stellen als Bewerber:innen, die Lücke schrumpfte – der Markt blieb dynamisch bis in den Winter. Zugleich zeigte sich im August 2024 ein strukturelles Ungleichgewicht: 38.000 mehr unbesetzte Stellen als gemeldete Bewerber:innen – eine Einladung, Nachvermittlung konsequent auszubauen.
Warum jetzt? Drei Gründe, Nachvermittlung offensiv zu nutzen
Demografie & Matching-Problem: Ausbildungsplätze und Bewerber:innen finden nicht automatisch zueinander – Berufsorientierungslücken, regionale Distanzen und Starttermine bremsen. Offizielle Indikatoren zu Angebot/Nachfrage belegt die BA-Statistik laufend.
Politik & Programme: Berufsbildungs-/Arbeitsmarktberichte verweisen auf ein anhaltendes Besetzungsproblem (z. B. unbesetzte Stellen, Vertragswechsel), das Nachvermittlung adressiert.
Wettbewerbsvorteil für Betriebe: Wer flexibel ist (Einstiegstermine, Brückenangebote), gewinnt Talente, die sonst in Schule/Übergangsgängen verharren – oder abwandern.
Schweiz & Österreich im Vergleich: ähnliche Muster, andere Instrumente
Schweiz: Die Lehrstellensituation gilt offiziell als positiv; regelmäßig gibt es auch im Mai/Juni zahlreiche offene Lehrstellen, und unversorgte Jugendliche finden bis in den Sommer/Herbst passende Angebote. Das Staatssekretariat für Bildung (SBFI) betont: Für Lehrbeginn 2024/2025 wurden leicht mehr Lehrverträge als im Vorjahr geschlossen; gleichzeitig sind noch viele Lehrstellen offen – Überblick bietet der kantonale Lehrstellennachweis LENA sowie das Portal berufsberatung.ch. Private Suchportale (z. B. Yousty) zeigen laufend mehrere zehntausend Inserate nach Lehrbeginn.
Österreich: Die Lage schwankt regional und über den Jahresverlauf. Laut AMS-„Spezialthema“ standen Ende September 2024 9.751 Lehrstellensuchenden 9.349 sofort verfügbare offene Lehrstellen gegenüber – teils Lücke (z. B. Wien), teils Überschuss offener Stellen (v. a. im Westen). 2025 weist das AMS die Lehrlingslage weiterhin als angespannt/heterogen aus. Ergänzend zeigt die WKO-Lehrlingsstatistik einen leichten Rückgang der Lehrlingsbestände 2024. In Wien betont das WAFF die „Lehrstellenlücke“ (durchschnittlich deutlich mehr Suchende als sofort verfügbare AMS-Lehrstellen) und empfiehlt überbetriebliche bzw. alternative Einstiege.
Fazit zum DACH-Vergleich:
Deutschland: strukturell viele unbesetzte Stellen, aber saisonal enger werdendes Matching – Nachvermittlung hat klare Wirkung.
Schweiz: insgesamt stabiler Lehrstellenmarkt, viele Restplätze bis nah an den Start – gute Chancen für Spätstarter:innen, zentrale Infrastruktur (LENA, Berufsberatung).
Österreich: regional gegensätzlich, Wien mit Unterdeckung, Westösterreich eher mit Überschuss; AMS/WKO liefern dichte Datenbasis; überbetriebliche Lehre fungiert als Brücke.
Wer sind „Nachvermittelte“ und „Spätstarter:innen“?
Es sind Jugendliche, die…
im ersten Anlauf keinen Vertrag bekamen oder sich neu orientieren,
nach Abbruch/Wechsel wieder suchen,
regional wechseln (z. B. Umzug),
oder erst spät entscheidungsreif sind (z. B. nach Praktika, Schule, FSJ).
BA-Kompaktanalyse nennt u. a. erfolglose Suche, Wechselwunsch oder fehlende Startreife als Gründe für die späte Platzierung.
Was jetzt wirkt: Taktiken für Betriebe (Okt.–Jan.)
Die folgenden Hebel sind praxisnah, skalierbar und in DACH anwendbar. Entscheidend ist, Barrieren zu senken: Zeitpunkt, Startreife, Mobilität, Wohnen.
1) Flexible Starttermine & Onboarding „rolling“
Rolling Entry (Nov., Dez., Jan.): Einstieg außerhalb 1.8./1.9., kombiniert mit individuellem Onboarding-Pfad (z. B. 6-Wochen-Curriculum).
Verkürzte Einarbeitung mithilfe Vorkurse (Betriebs-Mathe, Fachsprache, IT-Basics).
Modulare Berufsschul-Abstimmung (Rücksprache mit Berufsschule/HO-Phasen).
Wirkung: verringert die „verpasster Start“-Barriere; besonders effektiv in Branchen mit konstantem Auftragsvolumen.
2) Vorkurse & Brückenpraktika („Pre-Apprenticeships“)
2–8-wöchige Brückenpraktika mit klaren Lernzielen, Übergang in Probe-Ausbildungsvertrag.
Vorkurse in Mathe/Deutsch/Englisch/IT, ggf. mit externen Bildungsträgern (Deutschland: Träger + BA-Kooperation; Schweiz: regionale Angebote via berufsberatung.ch; Österreich: AMS-Vorkurse bzw. Überbetriebliche Lehre als Einstieg).
Wirkung: erhöht Startreife; reduziert Abbruchrisiko im 1. Lehrjahr.
3) Mobilität & Azubi-Wohnen
Azubi-Wohnheime / Partnerwohnheime (Kontingente sichern; Kooperation mit Kommunen/Trägern).
Zuschüsse zu ÖPNV/Regio-Ticket; Relocation-Mini-Bonus (einmalige Umzugspauschale).
Schweiz: kantonale Wohnangebote/Lernendenheime nutzen; Österreich: internatsgestützte Berufsschulen und regionale Förderungen anfragen (WKO/AMS-Programme listen).
Wirkung: erschließt überregionale Bewerberpools und gleicht Stadt–Land-Mismatch aus.
4) Matching konsequent digitalisieren
Deutschland: BA-Matching und regionale Berufsberatung nutzen (Berichte & Nachvermittlungsaktionen).
Schweiz: LENA (kantonale Lehrstellen) + berufsberatung.ch als zentrale Drehscheiben.
Österreich: AMS-Portale, WKO-Lehrlingsstatistik/Dashboards zur Planung, WAFF-Infos in Wien; ergänzend regionale Lehrstellenbörsen.
Wirkung: reduziert Informationsasymmetrien; ermöglicht schnelles Re-Matching in der heißen Phase.
5) Kommunikation: „Spät ist okay – Einstieg bleibt Einstieg“
Kampagnen mit klarer Botschaft („Dein Einstieg – jetzt“), Fristen entkräften („Start möglich bis…“).
Schnupper-Tage (Fr–Sa), Eltern-Q&A online, TikTok/IG-Reels aus dem Team.
Realistische Vorschau (Tagesabläufe, Schichtmodelle, Pendelzeiten) senkt Fehlpassungen.
Wirkung: normalisiert späten Einstieg und nimmt Entscheidungsdruck.
6) Ausbildungsdesign: kürzere Feedback-Zyklen, Mentoring
4-Wochen-Feedbacks im 1. Quartal, Buddy-System pro Azubi.
Standardisierte Lernziele für Brückenphase; Checklisten an Schule/Berufsschule gespiegelt.
Transferaufgaben (kleine Praxis-Erfolge) erhöhen Selbstwirksamkeit.
Länder-Spezifika beachten: Was ist wo besonders wirksam?
Deutschland
BA-Nachvermittlungsfenster aktiv nutzen (Kontakt zur Berufsberatung, Aktionen im Herbst/Winter).
Berufsschulkontakte klären, ob Seiteneinstiege organisatorisch abbildbar sind.
Regionale Pendel-Anreize (ÖPNV, Wohnheimkoops) aufsetzen.
Kennzahl-Fokus: unversorgte Bewerber vs. offene Stellen im Zielkreis; Abgleich mit BA-Monatsberichten.
Schweiz
LENA & berufsberatung.ch konsequent bespielen; Schnupperlehre als Brücke ausweiten.
Lehrvertrag-Nachzügler: mit Kantonen/Schulen flexible Startlösungen abstimmen (positive amtliche Lageeinschätzung 2024/25).
Private Portale (z. B. Yousty) parallel nutzen, um Reichweite zu erhöhen.
Österreich
Regionale Unterschiede einpreisen: Wien (Suchende > Stellen) vs. Westen (Stellen ≥ Suchende). Angebote dahin steuern, wo Bedarf ist.
Überbetriebliche Lehre als Startoption kommunizieren (AMS).
WKO-Daten/Dashboards zur Planung nutzen; ggf. internatsgestützte Berufsschulen für auswärtige Azubis.
Kennzahlen, die Nachvermittlung messbar machen
Time-to-Match (Okt.–Jan.): Tage vom Erstkontakt bis Vertragsunterzeichnung.
Konversionsrate Brückenpraktikum → Vertrag: Anteil der Praktika mit Übernahme.
Verbleib nach 6/12 Monaten: Bindungseffekt der Spätstarter-Kohorte.
Regionale Mobilität: Anteil Azubis mit >25 km Pendeldistanz oder Wohnheimnutzung.
Fachklassen-Andockquote: Anteil Seiteneinsteiger:innen mit erfolgreichem Berufsschulanschluss (ohne Wiederholung).
Häufige Hürden – und wie man sie pragmatisch umgeht
„Zu spät für den Einstieg“ → Rolling Onboarding + Vorkurspaket (Mathe/IT/Fachsprache).
„Zu weit weg“ → Wohnheimkoops, Umzugspauschale, Azubi-Ticket.
„Unsicher, ob es passt“ → 2–8 Wochen Brückenpraktikum mit Lernzielen + Feedback.
„Formalia/Schule schwierig“ → Frühe Abstimmung mit Berufsschulen/Kammern zu Blockunterricht/Anrechnungen.
„Zu wenig Bewerbungen“ → Mehrkanal-Posting (BA/AMS/LENA + Portale), Social-Clips aus dem Team.
Praxis-Templates (quick & dirty)
Stellenausschreibung „Late Entry“: „Start jederzeit bis 31.1.; Vorkurs (2 Wo.) inklusive; Wohnheim-Kontingent vorhanden; ÖPNV-Zuschuss; Buddy ab Tag 1.“
Brückenpraktikum MINT/Handwerk (4 Wo.): Woche 1 Sicherheit/Grundfertigkeiten, Woche 2 Werkzeug/Qualität, Woche 3 Mini-Projekt, Woche 4 Präsentation + Feedback + Entscheidung.
Eltern-FAQ: „Warum später Start kein Nachteil ist“, „Wie Berufsschule andockt“, „Wie wir fördern“.
KPI-Sheet: tagesaktueller Stand Bewerbungen, Praktika, Verträge; Ampel für Startreife & Schul-Slot.
Ausblick: Nachvermittlung als fester Bestandteil der Ausbildungsstrategie
Die Daten aus Deutschland (BA) zeigen, dass Oktober–Januar kein „Restverkauf“, sondern wirksames Matching ist.
Die Schweiz bestätigt: Viele Lehrstellen bleiben bis kurz vor Start offen – Spätentscheider:innen haben reale Chancen.
Österreich illustriert, wie stark regionale Asymmetrien sind – und dass überbetriebliche Einstiege ein belastbares Sicherheitsnetz bilden.
Wer Nachvermittlung strategisch verankert, gewinnt nicht nur „Resttalente“, sondern zusätzliche Potenziale: wieder gewonnene Schulabgänger:innen, Wechsler:innen, Nachzügler:innen – und damit genau jene Vielfalt, die Betriebe resilienter macht.







Kommentare