Werte statt „Cultural Fit“ – Wie schon im Recruiting für Retention gesorgt wird.
- Marcus

- 2. Nov.
- 5 Min. Lesezeit

In Zeiten, in denen der Arbeitsmarkt zunehmend von Fachkräftemangel, Hybridstrukturen und sinkender Mitarbeiterloyalität geprägt ist, erlebt die Rekrutierung eine grundlegende Transformation. Es reicht nicht mehr, Lebensläufe nach Stichworten zu durchsuchen oder auf den „Cultural Fit“ zu achten – also darauf, ob jemand in die bestehende Unternehmenskultur „hineinpasst“.
Wer heute erfolgreich rekrutieren und langfristig binden will, muss tiefer graben. Entscheidend ist nicht mehr, ob ein Kandidat „so tickt wie wir“, sondern ob er dieselben Werte teilt. Und um das zu erkennen, müssen Recruiter mehr sein als Prozessmanager – sie müssen zu feinsinnigen Beobachtern von Teamdynamiken, Motivationsmustern und psychologischen Biotopen werden.
Vom „Cultural Fit“ zum „Values Alignment“
Der Begriff Cultural Fit hat lange Zeit den Rekrutierungsdiskurs dominiert. Gemeint war, dass Mitarbeitende am besten funktionieren, wenn sie gut in die bestehende Kultur passen – in Tonfall, Arbeitsweise, Kommunikationsstil oder Humor. Die Idee dahinter: Wer sich „wie wir“ verhält, integriert sich schneller, vermeidet Reibungen und sorgt für Harmonie.
Doch dieser Ansatz hat einen gefährlichen Nebeneffekt. Er führt oft zu Homogenität – und Homogenität führt zu Stagnation. Wenn Teams zu gleich denken, fühlen und handeln, verlieren sie ihre Fähigkeit, sich zu hinterfragen oder innovativ zu sein. Vielfalt wird zum Fremdkörper statt zum Erfolgsfaktor.
Darüber hinaus ist Cultural Fit häufig diffus. Was genau ist „unsere Kultur“? Und wer definiert sie? In vielen Unternehmen ist sie ein ungeschriebenes Regelwerk, das von Gewohnheiten, impliziten Erwartungen und informellen Machtstrukturen geprägt ist. Wer nicht dazugehört, gilt schnell als „nicht passend“ – auch wenn er fachlich und menschlich wertvoll wäre.
Werteübereinstimmung (Values Alignment) hingegen greift tiefer. Es fragt nicht nach äusseren Ähnlichkeiten, sondern nach inneren Antriebsquellen:
Warum arbeite ich so, wie ich arbeite?
Welche Prinzipien leiten mich im Umgang mit Kollegen, Kunden und Problemen?
Was bedeutet Verantwortung, Vertrauen oder Wachstum für mich?
Wenn Werte übereinstimmen – etwa in Bezug auf Offenheit, Verlässlichkeit oder Lernorientierung – entsteht Bindung, auch wenn Menschen unterschiedlich sind. Werte sind stabiler als Kultur, weil sie die Grundlage bilden, auf der sich Kultur überhaupt erst entfaltet.
Werte schaffen Bindung – nicht Sympathie
In einer Ära sinkender Loyalität ist Bindung das neue Gold. Doch Bindung entsteht nicht aus Sympathie oder Bequemlichkeit, sondern aus Sinn und Kongruenz. Menschen bleiben dort, wo sie sich mit dem Warum identifizieren können.
Ein Beispiel: Ein Unternehmen, das Offenheit und Transparenz propagiert, aber in der Praxis Konflikte vermeidet und Informationen zurückhält, wird Mitarbeitende verlieren, die echte Ehrlichkeit schätzen. Umgekehrt wird jemand, der persönliche Verantwortung als zentralen Wert empfindet, sich in einem Team mit kollektiver Verantwortungsdiffusion langfristig nicht wohlfühlen.
Werte sind also der Klebstoff, der Menschen an Organisationen bindet – nicht, weil sie „reinpassen“, sondern weil sie sich selbst dort wiederfinden.
Fachkräftemangel verändert die Spielregeln
Der anhaltende Fachkräftemangel zwingt Unternehmen dazu, Auswahlprozesse neu zu denken. Früher galt: „Wir wählen aus, wer zu uns passt.“ Heute gilt oft: „Wir müssen überzeugen, dass wir zu ihnen passen.“
Das bedeutet: Recruiting ist längst kein reiner Auswahlprozess mehr, sondern ein beidseitiger Positionierungsprozess. Kandidaten wählen heute ebenso bewusst wie Unternehmen. Sie prüfen Werte, Führungsstil, Flexibilität, Haltung zu Nachhaltigkeit oder Diversität – und sie vergleichen.
In diesem Kontext wird strategische Rekrutierung zu einem Balanceakt: Unternehmen müssen ihre Anforderungen klar formulieren, gleichzeitig aber glaubwürdig kommunizieren, wofür sie stehen. Nur wer Werte ehrlich lebt, kann sie überzeugend vermitteln.
Und genau hier beginnt die neue Rolle des Recruiters.
Recruiter als Übersetzer zwischen Kultur und Realität
Recruiter müssen heute mehr verstehen als Stellenprofile. Sie müssen die emotionale Topografie eines Teams kennen:
Wie wird im Team kommuniziert?
Wo liegen unausgesprochene Spannungen oder unausgeglichene Dynamiken?
Welche Persönlichkeiten ergänzen sich, welche verstärken sich gegenseitig?
Welche Herausforderungen prägen die tägliche Arbeit – fachlich, organisatorisch, emotional?
Diese Nähe zum Business ist kein Schlagwort, sondern ein tiefes Eintauchen in das „Team-Biotop“. Es geht weniger darum, zu wissen, welche Software eingesetzt wird oder wie die KPIs aussehen, sondern darum, die Menschen zu verstehen, die dort arbeiten.
Nur so kann ein Recruiter erkennen, welche Werte in diesem Mikrosystem tatsächlich zählen. Vielleicht ist im Marketingteam Kreativität zentral, im Finance-Team dagegen Präzision und Verlässlichkeit. Doch beide Teams könnten den Wert Respekt teilen – nur eben unterschiedlich leben. Diese feinen Nuancen zu erkennen, ist strategische Kunst.
Strategische Rekrutierung braucht emotionale Intelligenz
Ein strategischer Recruiter muss heute so etwas wie ein „Organisationspsychologe mit Businessverständnis“ sein. Er muss die Fähigkeit besitzen, zwischen Worten und Verhalten zu lesen – sowohl bei Kandidaten als auch bei Hiring-Managern.
Denn Werte sind selten explizit. Sie zeigen sich in kleinen Reaktionen, im Umgang mit Fehlern, im Feedback-Stil, in Prioritäten oder in der Art, wie Erfolge gefeiert (oder übersehen) werden.
Beispiel: Ein Team, das auf Papier „Innovation“ als Wert führt, aber neue Ideen regelmäßig durch Hierarchien ausbremst, lebt diesen Wert nicht. Ein Recruiter, der das erkennt, wird seine Kandidatenkommunikation anpassen – und ehrlich vermitteln, wie das Umfeld wirklich funktioniert. Das schützt beide Seiten vor Enttäuschungen und fördert langfristige Stabilität.
Werteorientierte Auswahl – wie sie gelingt
Wie aber lässt sich Werteübereinstimmung konkret prüfen? Drei Strategien haben sich bewährt:
Verhaltensorientierte Interviews statt Schlagwortfragen
Anstatt zu fragen: „Wie wichtig ist Teamarbeit für Sie?“, sollte ein Recruiter fragen:
„Erzählen Sie mir von einer Situation, in der Sie mit einem Kollegen in einem Konflikt standen. Wie sind Sie vorgegangen?“
So erkennt man, ob jemand Kooperation lebt oder nur behauptet. Werte zeigen sich in Handlungen, nicht in Aussagen.
Transparenz statt Marketing
Kandidaten sollten ein realistisches Bild des Arbeitsalltags bekommen – inklusive der Schattenseiten. Wer trotz Herausforderungen motiviert bleibt, ist meist wertestabil. Offenheit im Prozess signalisiert Glaubwürdigkeit und zieht passende Menschen an.
Einbindung des Teams
Teaminterviews, Peer-Gespräche oder Job-Shadowing können helfen, Werte von beiden Seiten zu prüfen. Dabei geht es nicht darum, ob man sich „mag“, sondern ob man ähnlich denkt, wenn es um Verantwortung, Umgang mit Stress oder Kommunikation geht.
Warum das alles langfristig effizienter ist
Werteorientiertes Recruiting ist anspruchsvoller. Es erfordert Zeit, Beobachtungsgabe und Mut zur Ehrlichkeit. Doch langfristig ist es wirtschaftlich klüger.
Fehlbesetzungen aufgrund falscher Passung kosten Unternehmen laut Studien bis zu einem Jahresgehalt pro Person. Dazu kommen Produktivitätsverluste, Teamkonflikte und Reputationsschäden.
Wer dagegen ein Werte-Alignment sicher stellt, erzielt nachhaltige Effekte:
Höhere Loyalität: Menschen, die sich in ihren Werten wiederfinden, bleiben länger.
Bessere Teamdynamik: Unterschiedliche Persönlichkeiten, die gemeinsame Werte teilen, ergänzen sich statt sich zu reiben.
Stärkere Arbeitgebermarke: Glaubwürdige Wertekommunikation spricht gezielt passende Talente an.
Kurz: Werteorientierung ist kein „Soft Skill“, sondern ein Wettbewerbsvorteil.
Strategische Rekrutierung ist Organisationsentwicklung
Rekrutierung ist heute weit mehr als Personalbeschaffung – sie ist ein Hebel für Organisationsentwicklung. Jede Einstellung ist ein Statement darüber, wer man ist und wer man werden will.
Deshalb sollten Recruiter nicht in die Rolle des reinen Prozessverwalters gedrängt werden. Sie sind strategische Partner, die den Finger am Puls der Kultur haben. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur zu fragen, ob jemand passt, sondern warum.
Das Ziel sollte nicht sein, Menschen zu finden, die gleich sind – sondern solche, die dieselben Werte teilen und das Team dadurch stärker machen.
Denn während „Cultural Fit“ Harmonie erzeugt, schafft Werteübereinstimmung Vertrauen. Und Vertrauen ist die Währung, mit der Unternehmen in einer Welt des Fachkräftemangels, hybrider Arbeit und wachsender Unsicherheit am besten bezahlen können.






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