Wenn die Recruiter selbst zum Bias-Faktor werden – Geschlechtereffekte im Auswahlprozess
- Marcus

- 5. Okt.
- 3 Min. Lesezeit

Recruiting hat viele Baustellen: Fachkräftemangel, steigende Ansprüche der Kandidat:innen, neue Technologien, die Prozesse effizienter machen sollen. Dass dabei Bias – also unbewusste Vorurteile – eine Rolle spielt, ist hinreichend bekannt. Meist geht es dabei um die Bewerbenden: Frauen in Tech-Jobs haben schlechtere Chancen, Bewerbende mit „fremd klingenden“ Namen müssen mehr Bewerbungen schreiben, ältere Kandidat:innen werden aussortiert.
Doch eine Studie aus Australien lenkt den Blick auf eine andere Ebene:
Nicht nur die Kandidat:innen bringen Geschlecht mit – auch die Recruiter. Und dieses kann den Auswahlprozess stärker beeinflussen, als vielen bewusst ist.
Was die Studie zeigt
Die Untersuchung von Joanne Hall und Asha Rao (RMIT University, 2024) beschäftigte sich mit der Cybersecurity-Branche – einem Feld, das weltweit unter massivem Fachkräftemangel leidet und in dem nur rund 25 % Frauen arbeiten.
Das Setting:
Befragt wurden 78 Cybersecurity-Recruiter:innen. Es ging nicht um technische Skills, sondern um die Soft Skills, die sie bei Absolvent:innen suchten.
Das eigentlich wenig überraschende Ergebnis:
Weibliche Recruiterinnen legten mehr Wert auf menschenorientierte Kompetenzen (Kommunikation, Teamfähigkeit, Empathie).
Männliche Recruiter fokussierten stärker auf aufgabenorientierte Skills (Problemlösung, technisches Durchhaltevermögen, Aufgabenfokus).
Das Ganze ist kein Zufall: Die Unterschiede waren statistisch signifikant. Heisst: Das Geschlecht des Recruiters beeinflusst die Art von Talenten, die in die engere Auswahl kommen.
Warum das wichtig ist
Viele Unternehmen gehen heute davon aus, dass Diversität im Recruiting-Panel automatisch fairere Entscheidungen bringt. Doch wenn die Diversität im Panel fehlt – oder immer dieselben Profile dominieren – können Verzerrungen verstärkt statt reduziert werden.
Konkrete Implikationen:
In männerdominierten Bereichen wie IT oder Cybersecurity könnte die Fixierung auf „harte“ Skills soziale Kompetenzen unter den Tisch fallen lassen.
Umgekehrt kann ein Panel mit Übergewicht an Recruiterinnen stärker auf soziale Skills achten – und technisches Potenzial unterschätzen.
Das eigentliche Risiko: Talente, die beides mitbringen, fallen durchs Raster, weil Panels nach „ihrem“ Bias sortieren.
Praxisbeispiele: Wie sich das zeigt
Fall 1: Das Tech-Start-up
Recruiting-Team besteht fast ausschliesslich aus männlichen Hiring Managern. Ergebnis: Gesucht werden „Hardcore-Coder“, soziale Kompetenzen gelten als „nice to have“. Problem: Das Team kollabiert bei der ersten grösseren Kommunikationskrise.
Fall 2: Das Beratungsunternehmen
Recruiterinnen führen den Prozess an. Sie achten auf Teamfähigkeit und Präsentationsstärke. Ein sehr analytischer Kandidat ohne Charme wird abgelehnt – obwohl er für die Kundenprojekte extrem wertvoll gewesen wäre.
Fall 3: Das diverse Panel
Männer und Frauen, verschiedene Altersgruppen, HR plus Fachbereich. Ergebnis: Diskussionen sind intensiver, aber auch ausgewogener. Technische Härte trifft auf soziale Intelligenz – die Kandidaten-Auswahl ist robuster.
Was heißt das für Recruiting-Teams?
Damit nicht unbewusst das Geschlecht des Recruiters über Erfolg oder Absage entscheidet, braucht es klare Strukturen.
Tipps für die Praxis:
Panels bewusst divers besetzen
Nicht nur HR + Fachbereich – sondern auch auf Geschlechterbalance achten.
Standardisierte Bewertungskriterien nutzen
Ein klarer Fragenkatalog reduziert die Gefahr, dass „Bauchgefühl“ (und damit Bias) entscheidet.
Soft Skills messbar machen
Statt „hat gute Ausstrahlung“ → „hat in der Case Study aktiv nachgefragt und Lösungswege präsentiert“.
Bias-Trainings etablieren
Recruiting-Teams müssen lernen, den eigenen Einfluss zu reflektieren.
Und die Fachbereiche?
Hier wird es spannend: Oft sind es Hiring Manager (meist männlich in technischen Feldern), die das letzte Wort haben. Wenn ihre Kriterien zu stark auf „Hard Skills“ fokussieren, kommt Vielfalt nicht zustande.
Argumentationshilfe für Recruiter:innen:
Studienlage: Diverse Teams sind innovativer und wirtschaftlich erfolgreicher.
Risiko: Wer nur „hardcore Skills“ einstellt, baut Einseitigkeit – und Krisenanfälligkeit.
Lösung: Kombi-Skills fördern – Teams brauchen „Task + People“.
Was bedeutet das für Kandidat:innen?
Auch Bewerbende können einiges tun, um nicht Opfer unbewusster Filter zu werden:
Skills klar kommunizieren: Sowohl technische als auch soziale Kompetenzen sichtbar machen.
Beispiele liefern: „In Projekt X habe ich das System optimiert (Task-Skill) UND das Team koordiniert (People-Skill).“
Fragen stellen: Im Interview aktiv nach Teamkultur und Skill-Erwartungen fragen – das signalisiert Reflexionsfähigkeit.
Chancen und Risiken
Chancen:
Wenn Unternehmen Gender-Diversität auch in Recruiting-Panels ernst nehmen, können sie einseitige Verzerrungen reduzieren.
Ein besseres Matching aus Hard + Soft Skills führt zu resilienteren Teams.
Risiken:
Kleine Unternehmen mit einseitig besetzten HR-Teams laufen Gefahr, immer in dieselben Muster zu verfallen.
Ohne Standards bleibt die Auswahl unbewusst vom Geschlecht des Recruiters abhängig.
Recruiting muss auch auf sich selbst schauen
Wir reden viel über Bias auf Kandidatenseite – zu Recht. Aber die Studie zeigt: Recruiter:innen selbst bringen Bias ein. Das ist nicht per se schlecht – unterschiedliche Blickwinkel sind wertvoll. Aber nur, wenn sie bewusst kombiniert werden.
Für Unternehmen heisst das:
Panels divers besetzen.
Kriterien klar und messbar machen.
Fachbereiche erziehen, nicht nur auf „ihre“ Sichtweise zu vertrauen.
Für Kandidat:innen heisst es:
Sowohl Hard als auch Soft Skills sichtbar machen.
Den eigenen Mehrwert klar in beiden Dimensionen darstellen.
Am Ende geht es nicht darum, Bias auszuschalten – das wird nie gelingen. Es geht darum, Bias bewusst zu machen und auszubalancieren.








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