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Die Ängste der Entscheider - warum Recruitingprozesse oft länger brauchen

  • Autorenbild: Marcus
    Marcus
  • 24. Okt.
  • 5 Min. Lesezeit
Eine Utopie: Rekrutierung ohne Risiko.
Eine Utopie: Rekrutierung ohne Risiko.

Recruiting ist längst kein „HR-Thema“ mehr. Jede Führungskraft, die Menschen einstellt, rekrutiert – ob sie will oder nicht. Und trotzdem: Kaum ein Feld löst bei Führungskräften so viel Unsicherheit aus, wie das Thema Personalgewinnung.


Dabei geht es selten um fehlende Tools oder um mangelnde Bewerbungen.

Es geht um Angst – subtil, diffus, oft unausgesprochen.


Die Angst, falsche Entscheidungen zu treffen.

Die Angst, unvorbereitet zu wirken.

Die Angst, jemanden einzustellen, der oder die besser ist als man selbst.


Diese Ängste sind menschlich. Aber sie sabotieren gute Recruitingprozesse – und führen zu schwammigen Ausschreibungen, unklaren Entscheidungen und verpassten Chancen.


Zeit also, genauer hinzusehen. Hier mal exemplarisch einige Ängste, die uns in Recruitingprozessen immer wieder begegnen:



„Ich finde sowieso keine passenden Bewerber:innen“


Viele Führungskräfte gehen schon mit einem negativen Mindset in den Prozess:

„Es gibt da draussen ja eh niemanden mehr.“,
„Der Markt ist leer.“

Das Ergebnis: Stellenausschreibungen, die so unspezifisch sind, dass sich niemand wirklich angesprochen fühlt – oder so überladen, dass niemand alle Kriterien erfüllen kann.


Typisches Muster:

  • Unklare Aufgaben („Sie sind verantwortlich für spannende Projekte…“)

  • Übertriebene Anforderungslisten („mind. 10 Jahre Erfahrung, idealerweise 12 Tools, 4 Sprachen“)

  • Floskeln statt Orientierung („Wir suchen eine engagierte Persönlichkeit…“)


Was hilft:

Recruiting beginnt mit Klarheit.

Ein realistisches Anforderungsprofil ist kein Wunschzettel, sondern eine Priorisierung:


  • Welche 3–5 Fähigkeiten sind entscheidend für den Erfolg in dieser Rolle?

  • Was kann man lernen – und was muss man mitbringen?

  • Welche Werte und Haltungen sind im Team wirklich wichtig?


HR kann hier unterstützen, aber die Fachseite muss wissen, was sie will.

Wer diese Angst mit Daten (z. B. Arbeitsmarktanalysen, Talent Intelligence) kontert, gewinnt Handlungssicherheit.



„Ich weiss gar nicht, was ich im Gespräch fragen soll.“


Viele Führungskräfte sind brillante Fachexpert:innen – aber keine Interviewprofis.

Das führt zu Unsicherheit. Und Unsicherheit äussert sich in zwei Extremen:


  • Überkompensation (Dominanz im Gespräch, Monologe über sich selbst)

  • Rückzug (fehlende Struktur, Smalltalk statt Substanz)


Beide Varianten führen zu schlechten Einstellungsentscheidungen.


Woran man das erkennt:

  • Kein roter Faden im Interview

  • Fokus auf „Sympathie“ statt Kompetenz

  • Nachfragen nur oberflächlich (z. B. „Was sind Ihre Stärken?“)


Was hilft:

Trainings, Interviewleitfäden und strukturierte Bewertungsbögen.

Ein gutes Recruitinggespräch ist kein Zufall, sondern Handwerk.

Und Handwerk kann man lernen – gemeinsam mit HR, durch Übung, durch Feedback.


Recruiter:innen sollten Führungskräfte aktiv befähigen, souverän aufzutreten – nicht sie kontrollieren. Aber Führungskräfte müssen sich auch darauf einlassen.



„Ich will nichts Falsches sagen“


In Zeiten von Social Media, Bewertungsplattformen und Sensibilität für Diversity haben viele Führungskräfte Angst, etwas Falsches zu sagen – unbewusst diskriminierend, unprofessionell oder schlicht peinlich.


Das führt dazu, dass Gespräche steril werden, Bewerber:innen kaum authentische Einblicke erhalten – und am Ende beide Seiten ratlos auseinandergehen.


Symptome:

  • Verkrampfter Smalltalk

  • Vermeidung persönlicher Themen („Ich darf da ja nichts fragen…“)

  • Fehlende emotionale Verbindung


Was hilft:

Transparenz und Authentizität.

Ein Interview ist keine Rechtsprüfung, sondern ein Dialog auf Augenhöhe.

Wer ehrlich kommuniziert („Wir sind in einem Umbruch, das bringt auch Unsicherheiten mit sich“) wirkt glaubwürdiger als jemand, der ein perfektes Bild zeichnet.


Recruiter:innen können hier coachen:

Was ist rechtlich tabu – und was ist menschlich absolut erlaubt?



„Ich will mich nicht vergleichen lassen“


Ein heikler Punkt: Manche Führungskräfte scheuen Recruitingprozesse, weil sie fürchten, im Vergleich schlecht dazustehen. Sie wissen: Kandidat:innen bewerten auch den Interviewer – nicht nur umgekehrt. Das löst Druck aus: Wie wirke ich? Bin ich sympathisch? Bin ich kompetent genug?


Folge: Überinszenierung oder Unsicherheit. Manche wirken überheblich („Bei uns muss man schon abliefern“), andere defensiv („Ich hoffe, das war jetzt nicht zu unklar“).


Was hilft:

Ein Perspektivwechsel. Recruiting ist kein Bühnenauftritt, sondern ein Gespräch auf Augenhöhe. Wer offen über Herausforderungen spricht („Wir suchen jemanden, der uns stärker macht“) zeigt Führung – nicht Schwäche.


Und ja: Kandidat:innen dürfen sehen, dass selbst Führungskräfte nicht alles wissen. Das schafft Verbindung, keine Distanz.



„Was, wenn ich mich irre?“


Diese Angst ist der Klassiker – und der teuerste: die Angst vor Fehlentscheidungen.

Viele Prozesse ziehen sich endlos hin, weil niemand den Mut hat, eine klare Entscheidung zu treffen.


„Ich will lieber noch eine Person sehen.“
„Ich bin mir noch nicht ganz sicher.“

Das klingt vernünftig – ist aber meist Angst.


Was hilft:

Entscheidungskriterien im Vorfeld festlegen.

Ein strukturiertes Scoring (z. B. nach Kompetenzfeldern) hilft, Gefühle von Fakten zu trennen.


Und: Entscheidungen sind nie risikofrei.

Der Versuch, alles abzusichern, führt zu Stillstand.

Recruiting ist nicht die Suche nach Sicherheit, sondern nach Potenzial.



„Ich will nicht schwach wirken“


Ein fataler Denkfehler: Viele Führungskräfte glauben, sie müssten im Recruiting „stark“ wirken – souverän, dominant, unfehlbar.


Doch Bewerber:innen spüren das sofort.

Wer den Eindruck vermittelt, alles im Griff zu haben, lässt oft keinen Raum für echtes Gespräch.


Typische Sätze:

  • „Wir sind ein sehr anspruchsvolles Team.“

  • „Bei uns muss man funktionieren.“

  • „Ich weiss genau, wen ich suche.“


Das wirkt nicht stark – sondern unnahbar.


Was hilft:

Souveränität entsteht durch Offenheit, nicht durch Kontrolle.

Wer sagt: „Wir sind ein wachsendes Team, da läuft auch mal etwas chaotisch – und genau dafür suchen wir Verstärkung“, zeigt Führungsreife.



„Ich will niemanden einstellen, der mir gefährlich werden könnte“


Eine der subtilsten, aber mächtigsten Ängste.

Gerade erfahrene Führungskräfte fürchten manchmal, durch starke Neueinstellungen an Einfluss zu verlieren.


Das zeigt sich in Aussagen wie:


„Zu ambitioniert.“
„Passt kulturell nicht so ganz.“
„Wir brauchen jemanden, der sich erstmal einfügt.“

In Wahrheit steckt oft das Unbewusste dahinter: Angst vor Konkurrenz.


Was hilft:

Klarheit über den eigenen Führungsstil. Gute Führung bedeutet, Menschen einzustellen, die besser sind als man selbst – weil sie das Team stärker machen. Recruiter:innen können diese Angst abfedern, indem sie gezielt an den Team-Fit statt an individuellen Status denken lassen:


„Was wäre, wenn diese Person Sie entlastet – statt Sie herausfordert?“


„Was, wenn die Integration scheitert?“


Viele Führungskräfte zögern bei der Auswahl nicht wegen des Bewerbers, sondern wegen der Angst vor dem Danach.


„Wie nehme ich die Person ins Team auf?“
„Wie reagieren die anderen?“
„Wie viel Zeit kostet das Onboarding?“

Diese Angst ist real – und verständlich, denn eine Neueinstellung bedeutet immer Veränderung.


Was hilft:

Recruiting darf nicht mit dem Unterzeichnen des Vertrags enden.

Ein strukturiertes Onboarding (Pat:innen/Götti-Konzepte, klare Lernziele, frühes Feedback) nimmt diese Sorge. Wenn Führungskräfte erleben, dass sie dabei unterstützt werden, sinkt die Hemmschwelle, neue Leute einzustellen.



Wie man die Angst überwindet – und Recruiting wieder souverän macht


  1. Verständnis schaffen: Angst ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Verantwortung.

  2. Kompetenz stärken: Trainings, Leitfäden, klare Rollen – sie schaffen Sicherheit.

  3. Partnerschaft leben: Recruiter:innen sind keine Gatekeeper, sondern Berater:innen.

  4. Transparenz fördern: Daten, Feedback und offene Kommunikation statt Bauchgefühl.

  5. Mutkultur fördern: Lieber eine gute Entscheidung heute als eine perfekte nie.



Mut statt Mythos


Führungskräfte, die ihre Ängste im Recruiting anerkennen, handeln mutiger – nicht vorsichtiger. Recruiting ist kein Ort für Perfektion, sondern für Begegnung.


Und wer sich traut, ehrlich zu sein – über Unsicherheit, über Erwartungen, über Grenzen – gewinnt am Ende das, was wirklich zählt: Menschen, die genau deswegen kommen, weil sie Authentizität schätzen.

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