Was hilft mehr gegen den Fachkräftemangel: „Aktiv-Rente“ oder die Förderung der Beschäftigung von Ü55-Fachkräften?
- Marcus

- 26. Okt.
- 4 Min. Lesezeit

Auch wenn es gerade konjunkturell "ruckelt": Der Fachkräftemangel ist Fakt und eine strukturelle Herausforderung für die deutsche Wirtschaft. In nahezu allen Branchen fehlen qualifizierte Arbeitskräfte – vom Handwerk über Pflege und Bildung bis zur IT.
Die neue Bundesregierung unter Friedrich Merz hat mit der sogenannten „Aktiv-Rente“ ein Instrument beschlossen, das ältere Beschäftigte über das gesetzliche Rentenalter hinaus zum Weiterarbeiten motivieren soll. Gleichzeitig liegt in der Gruppe der Ü55-Fachkräfte, die auf Arbeitssuche sind oder sich aus dem Erwerbsleben zurückgezogen haben, ein weit grösseres von der Wirtschaft gerne ignoriertes Potenzial.
Die Frage lautet also:
Was wirkt stärker gegen den Fachkräftemangel – die Aktiv-Rente oder die gezielte Förderung von Ü55-Fachkräften?
Und: Wie kann die Politik die Beschäftigung Älterer so gestalten, dass sie sich auch für Unternehmen lohnt?
Die Aktiv-Rente: Steuerfreie Motivation zum Weiterarbeiten
Was geplant ist
Die Aktiv-Rente soll laut Regierungsentwurf ab 1. Januar 2026 gelten. Ihr Ziel: Menschen, die das Rentenalter erreicht haben, sollen steuerlich begünstigt weiterarbeiten können.
Kernpunkte des Modells:
Bis zu 2.000 Euro monatlich sollen steuerfrei hinzuverdient werden können – zusätzlich zur Rente.
Es werden lediglich Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherung fällig.
Die Regel gilt nur für abhängige Beschäftigung, nicht für Selbständige.
Der Bezug der gesetzlichen Rente ist Voraussetzung für die Aktiv-Rente.
Damit will die Regierung ältere Erwerbstätige länger im Arbeitsleben halten – und so dem Fachkräftemangel entgegenwirken.
Wie viele profitieren könnten
Laut Statistischem Bundesamt (Destatis) waren 2023 etwa 13 % der 65- bis 74-Jährigen in Deutschland erwerbstätig.
Insgesamt lebten rund 715.000 Menschen im Rentenalter überwiegend vom eigenen Arbeitseinkommen. (Destatis, 2024)
Zwischen 2012 und 2021 stieg der Anteil der 65- bis 69-Jährigen mit Job von 11 % auf 17 %.
Nach Regierungsangaben könnten etwa 168.000 Personen unmittelbar von der steuerfreien Aktiv-Rente profitieren.
Die Kosten für den Staat werden auf etwa 890 Mio. Euro jährlich geschätzt – vor allem durch Steuerausfälle.
Chancen und Grenzen
Vorteile:
Finanzielle Anreize für Weiterarbeit nach der Rente.
Know-how-Erhalt und Wissensweitergabe in Betrieben.
Signalwirkung: Arbeit im Alter wird gesellschaftlich aufgewertet.
Grenzen:
Physische und gesundheitliche Einschränkungen vieler Rentner.
Begrenzter Kreis derjenigen, die überhaupt weiterarbeiten möchten oder können.
Geringe Wirkung auf strukturelle Probleme wie Altersdiskriminierung oder fehlende Weiterbildung.
Der Hebel ist klein: 168.000 Menschen entsprechen weniger als 0,4 % aller Erwerbstätigen.
Die Aktiv-Rente ist also sinnvoll – aber ihr Beitrag gegen den Fachkräftemangel bleibt relativ begrenzt.
Das unterschätzte Potenzial: Ü55-Fachkräfte in Arbeit bringen
Während die Aktiv-Rente ältere Erwerbstätige nach 65 adressiert, gibt es eine viel grössere Zielgruppe, die noch mitten im Erwerbsleben steht: die 55- bis 67-Jährigen.
Die aktuelle Lage
Ende 2024 waren laut VdK rund 680.000 Menschen ab 55 Jahren arbeitslos.
Die Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen liegt bei rund 74,7 %.
Dennoch sind viele von Unterbeschäftigung, prekären Arbeitsverhältnissen oder Befristungen betroffen.
Hinzu kommt: Fast ein Drittel der Beschäftigten über 50 plant, vorzeitig aus dem Berufsleben auszusteigen, oft aus Gründen der Belastung oder fehlender Perspektiven. (Human Resources Manager, 2024)
Warum diese Gruppe wichtiger ist
Sie verfügt über Erfahrung, Ausbildung und Arbeitsroutine.
Sie ist meist körperlich und geistig voll einsatzfähig.
Sie könnte kurzfristig Engpässe schliessen – insbesondere in Industrie, Handwerk, Verwaltung oder Gesundheitswesen.
Und sie ist viel grösser als die Zielgruppe der Aktiv-Rente: Mehr als 7 Millionen Erwerbstätige in Deutschland sind zwischen 55 und 65 Jahre alt.
Direkter Vergleich: Aktiv-Rente vs. Förderung Ü50
Aspekt | Aktiv-Rente (65–70 Jahre) | Förderung Ü50-Fachkräfte (50–65 Jahre) |
Zielgruppe | Menschen im Rentenalter, die weiterarbeiten möchten | Fachkräfte 50+, häufig arbeitslos oder unterbeschäftigt |
Zahl der Betroffenen | 715.000 Erwerbstätige im Rentenalter (13 % der 65–74-Jährigen), davon etwa 168.000 direkt aktivierungsfähig (Destatis, 2024) | Rund 680.000 über 55-Jährige arbeitslos, mehrere Mio. in prekären oder Teilzeitverhältnissen (VdK, 2024) |
Potenzial / Hebelwirkung | Begrenztes Potenzial: kleine Zielgruppe, Gesundheitsfaktoren limitieren Wirkung | Breiter Hebel: gezielte Förderung kann Hunderttausende mobilisieren |
Kosten / Investition | Geschätzte 890 Mio. € jährlich (Steuerausfälle) | Förder-, Qualifizierungs- und Matchingkosten ähnlich hoch, aber wachstumswirksam |
Wirkungsgeschwindigkeit | Mittel- bis langfristig | Kurz- bis mittelfristig – Programme könnten schnell greifen |
Nachhaltigkeit | Gering, da Altersarbeit oft temporär | Hoch – stärkt Arbeitsmarktintegration und Beschäftigungsfähigkeit |
Politische Signalwirkung | Arbeit im Alter wird gewürdigt | Altersdiversität und Weiterbildung werden strategisch verankert |
Ergänzungsfähigkeit | Ergänzt Förderprogramme sinnvoll | Ergänzt Aktiv-Rente durch frühere Aktivierung |
Fazit der Gegenüberstellung
Die Aktiv-Rente erreicht eine kleine, aber wertvolle Zielgruppe: jene, die gesund, motiviert und bereits beschäftigt sind.
Die Förderung von Ü50-Fachkräften adressiert eine viel grössere Gruppe – mit unmittelbarem Potenzial zur Fachkräftesicherung.
Während die Aktiv-Rente symbolisch für den „Wert von Arbeit im Alter“ steht, schafft die Förderung der Ü50-Gruppe systemische Wirkung: Sie verändert Einstellungen, Qualifikationen und Strukturen.
Wie die Politik die Beschäftigung von Ü50-Fachkräften attraktiver machen kann
Lohnkostenzuschüsse & Sozialabgaben-Vergünstigungen
Zuschüsse für Unternehmen, die ältere Fachkräfte einstellen oder weiterbeschäftigen.
Temporäre Senkung von Arbeitgeberanteilen zur Sozialversicherung.
Förderung altersgerechter Arbeitsplätze (z. B. ergonomische Anpassungen, Assistenzsysteme).
Gezielte Weiterbildung & lebenslanges Lernen
Individuelle Weiterbildungsbudgets für alle ab 50.
Förderung von Digital- und KI-Kompetenzen, kombiniert mit Lernplattformen.
Kooperationen mit Volkshochschulen, Fachhochschulen und Industrieakademien.
Matching- und Mentoringprogramme
Vermittlungsinitiativen, die Kompetenzen statt Alter in den Fokus stellen.
Mentor:innen-Modelle, die Wissenstransfer zwischen Generationen fördern.
Regionale Kompetenzzentren für „Silver Talents“.
Flexible Arbeitsmodelle
Teilzeit, Jobsharing und Homeoffice ermöglichen längeres Arbeiten.
Temporäre Projektarbeit („interne Gigs“) anstelle fester Vollzeitstellen.
Übergangsmodelle zwischen Rente und Teilbeschäftigung.
Abbau von Altersdiskriminierung
Strengere Kontrolle von Benachteiligung im Bewerbungsprozess.
Öffentliche Kampagnen zur Aufwertung älterer Arbeitnehmer.
Positive Beispiele („Best-Ager-Initiativen“) als Vorbilder sichtbar machen.
Ein Rechenbeispiel
Nehmen wir an, durch gezielte Förderung könnten 100.000 Ü50-Fachkräfte innerhalb eines Jahres aktiviert werden.
Bei einem durchschnittlichen Bruttolohn von 35.000 € pro Jahr entstünde ein zusätzliches Arbeitsvolumen von 3,5 Mrd. €.
Selbst wenn der Staat davon 10 % (350 Mio. €) als Fördermittel investierte, wäre der Nettowachstumseffekt erheblich – insbesondere durch Steuereinnahmen, Sozialbeiträge und Konsum.
Zum Vergleich: Die Aktiv-Rente kostet geschätzt 890 Mio. € pro Jahr, aktiviert aber weniger als ein Fünftel dieser Zahl an Personen.
"UND" statt "ODER" und ein "ABER"
Beide Ansätze können einen Beitrag leisten – aber mit unterschiedlicher Tiefe:
Die Aktiv-Rente ist ein sinnvolles Symbol und ein pragmatischer Bonus für Menschen, die länger arbeiten möchten.
Die Förderung von Ü50-Fachkräften ist hingegen der strategische Hebel, um den Arbeitsmarkt resilienter zu machen, Altersvielfalt zu fördern und Fachkräfte nachhaltig zu sichern.
Idealerweise kombiniert die Regierung beide Wege:
Die Aktiv-Rente würdigt Erfahrung – die Förderung der Ü50-Fachkräfte erschließt Zukunft.
Nur wenn Erfahrung und Perspektive zusammenwirken, kann Deutschland den Fachkräftemangel wirklich entschärfen. Und das "ABER"? Das ist gar nicht so trivial. Beide Massnahmen dürfen eines nicht: zu Lasten der restlichen, jüngeren Arbeitnehmer:innen gehen. Ersetzt ein 58-Jähriger eine Mittdreissigerin oder eine 68-jährige einen Endvierziger, ist nichts gewonnen.
Ist der Post subjektiv? Klar, ist er. schliesslich bin ich 57 Jahre alt. Ist er allumfassend? Sicher nicht – aber er soll zum Nachdenken anregen und idealerweise zum Handeln motivieren.








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